Portraits von Jan Grumiller & Hannes Grohs (ÖFSE)
privat / Birgit Machtinger

Die COVID-19-Pandemie zeigt einmal mehr die Fragilität globaler Wertschöpfungsketten (GWK). In einer Vielzahl von Sektoren kam es zu Lieferverzögerungen und -engpässen. Aus der Perspektive des Globalen Nordens stellt sich hier ein zentrales Grundproblem: Multinationale Unternehmen haben die Produktion von vielen Produkten zunehmend in den Globalen Süden ausgelagert und die dabei entstehenden GWK vorrangig entlang von Effizienzkriterien organisiert (siehe Infobox). Das führte zwar zu verminderten Kosten, verringerte aber die Resilienz und Robustheit der Lieferketten. Somit waren die Möglichkeiten, in Krisenzeiten schnell auf erhöhten Bedarf und geänderte Rahmenbedingungen zu reagieren, eingeschränkt.

Das ist vor allem bei sogenannten kritischen Gütern fatal. Während der COVID-19-Pandemie kam es weltweit zu Lieferengpässen von medizinischer Schutzausrüstung, insbesondere bei Schutzmasken. Die Pandemie hat aber auch bereits bestehende Probleme in GWK vor Augen geführt: Medikamentenengpässe haben sich im Globalen Norden im letzten Jahrzehnt allgemein gehäuft. Länder des Globalen Südens stehen bei der Versorgung mit Medikamenten allerdings vor noch deutlich größeren Problemen. Medikamente sind häufig zu teuer, die zielgerichtete Forschung entlang der Bedürfnisse des Globalen Südens ist begrenzt, und es mangelt in vielen Fällen an regionalen Produktionskapazitäten.

Ein Brennglas – unterschiedliche Herausforderungen

Die COVID-19-Pandemie wirkt in diesem Kontext wie ein Brennglas auf die Herausforderungen einer globalisierten Ökonomie. Die Einbindung von Ländern des Globalen Nordens und des Globalen Südens in GWK ist unterschiedlich. Aus diesem Grund unterscheiden sich auch die Herausforderungen, mit denen sich die Regionen konfrontiert sehen, erheblich. Dasselbe gilt für die daran anschließenden Diskussionen. In den Ländern des Globalen Nordens – inklusive der EU und der USA2 – fokussiert sich die Debatte vor allem auf mögliche Maßnahmen zur Erhöhung der Resilienz und Robustheit von GWK. Ziel ist insbesondere eine weitgehende Versorgungssicherheit mit kritischen Gütern. Zudem wird in der EU – aber auch in anderen Ländern – unter dem Stichwort Strategische Autonomie3 eine vermehrte Rückverlagerung der Produktion diskutiert.

Resilienz und Robustheit sollen unter anderem durch eine erhöhte Lagerhaltung gestärkt werden. Außerdem plädieren vor allem viele liberale Ökonom*innen4 für ein sogenanntes Rebalancing von Lieferketten. Die globale Ausrichtung soll dabei erhalten bleiben. Allerdings müssten Maßnahmen5 gesetzt werden, die zur geographischen als auch mengenmäßigen Diversifizierung von Zuliefernetzwerken führen; den (kritischen) Produktionsanteil erhöhen, der in Betrieben selbst hergestellt wird; und die Transport- und Logistikinfrastruktur stärken. Dadurch ließen sich Risiken wie das Entstehen regionaler Cluster, Produktionsprobleme beim Ausfall einzelner Zulieferer sowie Lieferverzögerungen im Allgemeinen reduzieren.

Während die Notwendigkeit GWK robuster zu strukturieren unbestritten ist, bleibt ungeklärt, inwieweit Unternehmen die notwendigen Maßnahmen setzen, solange sie die Kosten dafür selbst tragen müssen. Staatliche Auflagen und Anreize könnten hier regulierend wirken. Ein Umstand, der auch für eine etwaige Rückführung von Produktion (Reshoring)6 in den Globalen Norden von Bedeutung sein wird. Gegenwärtig ist die Profitabilität der Produktion für viele kritische Güter in der EU begrenzt. Das heißt, um die Importabhängigkeit im Sinne einer Strategischen Autonomie zu reduzieren, müsste Reshoring durch staatliche Unterstützungsmaßnahmen gefördert werden. Dabei sind die Möglichkeiten und Kosten je nach Produkt höchst unterschiedlich.

Während in Europa also über lieferkettenspezifische Maßnahmen diskutiert wird und die (End-)Fertigung von vielen – insbesondere technologieintensiven – Produkten ohnehin nach wie vor in der EU stattfindet, gestaltet sich die Debatte um Versorgungssicherheit im Globalen Süden gänzlich anders. Länder des Globalen Südens stehen vor strukturellen Problemen: Sie sind zumeist als Zulieferer in GWK eingebunden und Importabhängigkeiten sind nicht auf Dynamiken der Auslagerung von ehemals bestehender Produktion zurückzuführen. Bis heute gibt es in den meisten Ländern des Globalen Südens keine Produktionskapazitäten für wichtige kritische Güter. Dies hat schwerwiegende Auswirkungen für die lokale Versorgungssicherheit.

Mit Süd-Süd-Kooperation und europäischer Politikkohärenz gegen strukturelle Probleme

Die ungleichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf Nord und Süd zeigen, dass zur Lösung der mangelnden Versorgungssicherheit mit kritischen Gütern – insbesondere im Fall von Krisen – vermehrte Süd-Süd-Kooperation und der Aufbau von regionalen Produktionskapazitäten notwendig sein werden. Das hat sich in der COVID-19-Pandemie eindrucksvoll im Fall der global ungleichen Verteilung und Produktion von Impfstoffen7 gezeigt. Die internationale Staatengemeinschaft – allen voran die EU – verhindert nach wie vor auf Grundlage der WTO-Patentregelungen den raschen Aufbau von Produktionskapazitäten im Globalen Süden. Um dieser Ungleichheit entgegenzuwirken, wäre es von zentraler Bedeutung, dass die Länder des Globalen Südens durch die internationale Staatengemeinschaft tatkräftig unterstützt werden und der technologische Transfer gewährleistet wird.

Maßnahmen zur Erhöhung der Versorgungssicherheit in der EU dürfen zudem dem EU-Grundsatz zur Wahrung der Politikkohärenz für Entwicklung8 nicht widersprechen. Das bedeutet, dass die EU sämtliche Politikmaßnahmen auf ihre entwicklungspolitischen Auswirkungen hin zu überprüfen und im Falle negativer Konsequenzen anzupassen hat. Gerade Maßnahmen zur Rückverlagerung der Produktion werden Auswirkungen auf Länder des Globalen Südens haben. Das Beschäftigungs- und Einkommensniveau an den aktuellen Produktionsstandorten im Globalen Süden kann potenziell sinken, ebenso wie die Profitabilität von Unternehmen, die durch die in Europa geschaffenen Kapazitäten unter Preisdruck geraten. Importabhängige Länder könnten hingegen von niedrigeren Preisen profitieren. Regionen in geographischer Nähe zur EU – etwa Nordafrika – könnten sogenannte Nearshoring-Prozesse zu Gute kommen. Bei diesen Prozessen wird die Produktion nicht in die EU selbst zurückgeführt, sondern in unmittelbare Nachbargebiete.

Auf politischer Ebene wären zudem EU-Initiativen für einen neuen Multilateralismus9 wünschenswert. Ein solcher muss das Konkurrenzdenken zwischen Staaten und Regionen – zumindest teilweise – überwinden und angesichts der notwendigen Bekämpfung der immer noch anhaltenden COVID-19-Pandemie und weiteren gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen wie der Klimakrise auf internationale Kooperation setzen.


1 Dieser Beitrag beruht auf Grumiller, Jan; Grohs, Hannes (2021): Increasing security of supply for critical medical and pharmaceutical goods in the EU: lessons from the COVID-19 pandemic. ÖFSE Briefing Paper 29 sowie Grumiller, Jan;  Grohs, Hannes (2021): Improving security of supply for critical products in the Global North and South post-COVID-19: The case of medical and pharmaceutical goods. In: ÖFSE (Hg.): COVID-19 and the Global South – Perspectives and Challenges. Österreichische Entwicklungspolitik 2021.

2 The White House (2021): Building Resilient Supply Chains, Revitalizing American Manufacturing, and Fostering Broad-Based Growth. 100-Day Reviews under Executive Order 14017

3 Grajewski, Marcin (2021): Briefing: The EU strategic autonomy debate. European Parliamentary Research Service. Briefing. European Parliament.

4 Baldwin, Richard E. und Evenett, Simon J. (2020): COVID-19 and Trade Policy: Why Turning Inward Won’t Work. London: CEPR Press

5 McKinsey & Company (06.08.2020): Report: Risk, resilience, and rebalancing in global value chains

6 Raza, Werner; Grumiller, Jan; Grohs, Hannes; Essletzbichler, Jürgen; Pintar, Nico (2021): Post Covid-19 value chains: options for reshoring production back to Europe in a globalised economy. Study for the European Parliament’s Committee on International Trade

7 Grumiller, Jan; Paintner, Jonas; Raza, Werner (2021): Impfstoffnationalismus hilft niemandem! Wege zu globaler Impfgerechtigkeit. A&W Blog

8 European Commission (2019): Policy Coherence for Development. Luxembourg: Publications Office of the European Union

9 Raza, Werner (2021): Strategische Konkurrenz statt Kooperation im 21. Jahrhundert? Zur Krise des internationalen Systems und der Rolle Europas. Aktueller Kommentar Oktober 2021. ÖFSE


Infobox

Outsourcing, Offshoring & Effizienz

In den letzten Jahrzehnten forcierten viele multinationale Unternehmen sogenanntes Offshoring und Outsourcing. Darunter ist die aus Kostengründen betriebene Auslagerung von einzelnen Produktionsschritten an Zulieferunternehmen – oftmals im Globalen Süden – zu verstehen. Darüber hinaus wurde versucht, globale Lieferketten möglichst effizient zu organisieren. Das führte zu einer Zunahme der just-in-time Beschaffung, welche die Lagerhaltung und somit Puffer im Fall von Krisen reduziert.

Zudem verbreitete sich die Praxis des single-sourcing: Anstelle einer Vielzahl an Zulieferern verlassen sich Unternehmen nur noch auf einen oder wenige Zulieferunternehmen. Aufgrund von Skalenerträgen und Netzwerkeffekten entstanden zudem oftmals regional konzentrierte Produktionscluster. Sowohl single-sourcing als auch regionale Cluster reduzieren die Resilienz von Lieferketten im Fall von Krisen (z.B. Ausfall eines Unternehmens, regionale Krisen oder Exportrestriktionen). Außerdem gerät durch das Primat der Kosteneffizienz die soziale und ökologische Nachhaltigkeit von Lieferketten aus dem Blick.


Über die Autoren

Jan Grumiller ist seit 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE). Seine Forschung fokussiert auf Globale Wertschöpfungskettenanalysen und Industriepolitik. Seit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie konzentriert er sich dabei insbesondere auf Fragen der Resilienz von Lieferketten und das Thema Reshoring.

Hannes Grohs ist Junior Researcher bei der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE). Er ist seit 2017 mit den Schwerpunkten Globale Wertschöpfungskettenanalysen, Industriepolitik sowie Entwicklungsökonomie und -politik an der ÖFSE tätig. Seit September 2021 betreut er außerdem die Agenden der Wissenschaftskommunikation.


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