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Jens Martens -Global Policy Forum

Am 24. und 25. September 2019 treffen sich die Staats- und Regierungschefs bei den Vereinten Nationen in New York, um die Fort- (bzw. Rück-)schritte bei der Umsetzung der Agenda 2030 und ihrer Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) zu überprüfen. Die Veranstaltung ist der erste UN-Gipfel zu den SDGs seit der Verabschiedung der Agenda 2030 im September 2015. Flankiert wird der Gipfel durch weitere hochrangige Veranstaltungen u.a. zu den Themen Klima, allgemeine Gesundheitsfürsorge und Entwicklungsfinanzierung.

Angesichts der weltpolitischen Großwetterlage sind die Erwartungen an die offiziellen Gipfelergebnisse gering. Stattdessen setzt der UN-Generalsekretär eher auf freiwillige Initiativen einzelner Regierungen und privates Engagement. Zivilgesellschaftliche Organisationen und soziale Bewegungen wie Fridays for Future haben parallel zur Gipfelwoche zu weltweiten Streiks und Straßenprotesten aufgerufen. Zumindest die mediale Aufmerksamkeit wird dem Gipfel damit sicher sein. In Österreich ruft die Plattform SDG Watch Austria alle Menschen am 25. September zu einem Flashmob unter dem Motto „Keine Zeit für Stillstand! Gemeinsam für ein gutes Leben für alle“ auf. Österreich steht in der Umsetzung der SDGs noch am Anfang. Die Liste unerledigter Aufgaben durch die Regierungen ist lang. Offizielle Aufgabe des Gipfels ist es, die Fortschritte bei der Umsetzung der Agenda 2030 und der SDGs zu überprüfen und daraus politische Schlussfolgerungen abzuleiten. Die Vorarbeiten für diese erste SDG-Zwischenbilanz liegen bereits vor.

Düsteres Bild
Der UN-Generalsekretär hat im Juni 2019 seinen jährlichen Bericht über die Umsetzung der SDGs vorgelegt. Ungeachtet einiger Fortschritte zeichnet der Bericht insgesamt ein düsteres Bild: Die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen schreitet in alarmierendem Umfang fort: Der Meeresspiegel steigt; die Versauerung der Ozeane beschleunigt sich; die letzten vier Jahre waren die wärmsten, die je verzeichnet wurden; eine Million Pflanzen- und Tierarten sind vom Aussterben bedroht; die Bodendegradation hält ungehindert an. Das Ziel, die extreme Armut bis 2030 zu beseitigen, ist gefährdet. Der weltweite Hunger steigt und mindestens die Hälfte der Weltbevölkerung hat keinen ausreichenden Zugang zu grundlegenden Gesundheitsdiensten. Entsprechend kommt der Bericht zu dem Schluss:

„Es ist völlig klar, dass eine viel tiefere, schnellere und ehrgeizigere Reaktion erforderlich ist, um den sozialen und wirtschaftlichen Wandel in Gang zu setzen, der zur Erreichung der 2030-Ziele erforderlich ist.“

Regierungen auf dem falschen Weg
Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt der Global Sustainable Development Report (GSDR) 2019, ein wissenschaftlicher Grundlagenbericht der UN zu den verschiedensten Aspekten von Nachhaltigkeit, der von nun an alle vier Jahre zum SDG-Gipfel erscheinen soll. Er stellt fest, dass die Regierungen bei der Verwirklichung vieler SDG-Zielvorgaben auf dem falschen Weg seien. Bei einigen, wie den Zielen zur Bekämpfung des Klimawandels (SDG 13) und der Reduzierung von Ungleichheit (SDG 10) geht der Trend in die falsche Richtung. Der Bericht fordert, sich nicht (nur) isoliert mit der Umsetzung einzelner SDGs zu befassen, sondern stärker die Zielkonflikte (tradeoffs) in den Blick zu nehmen.

Zivilgesellschaftliche Organisationen fordern dies seit langem. In seinem jährlichen SDG-Schattenbericht Spotlight on Sustainable Development plädiert ein globale Plattform von Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften, sich vor allem mit den strukturellen Hindernissen bei der Umsetzung der SDGs zu befassen. Die Umsetzung der Agenda 2030 sei nicht nur eine Frage besserer Politik einzelner Ressorts. Sie erfordere grundsätzliche Veränderungen in der Art und Weise, wie Macht ausgeübt wird, auch durch institutionelle Reformen. Der Spotlight Report 2019 mit dem programmatischen Titel „Reshaping governance for sustainability“ stellt fest:

„Ein einfaches Software-Update reicht nicht aus – wir müssen die Hardware nachhaltiger Entwicklung, d.h. Governance und Institutionen auf allen Ebenen, neu gestalten.“

Ähnlich grundsätzlich sind die Forderungen, die die europäische Ausgabe des Spotlight Reports formuliert. Der in diesem Jahr erstmals erschienene Bericht Spotlight Report on Sustainability in Europe befasst sich explizit mit den negativen externen Effekten europäischer Politik für den Rest der Welt. Die von der Agenda 2030 propagierte Politikkohärenz für nachhaltige Entwicklung erfordere gerade, auch die Externalitäten und Spill-over-Effekte der Politik zu berücksichtigen. Das gelte für alle Politikbereiche, allen voran die Handels- und Investitionspolitik, die Finanzpolitik sowie die Gemeinsame Agrarpolitik der EU. Sie müssten konsequent an den Zielen und Prinzipien der Agenda 2030 ausgerichtet werden.

Vages Vorabergebnis dank Trump, Bolsonaro & Co.
Vom SDG-Gipfel sind entsprechend grundsätzliche Beschlüsse nicht zu erwarten. Das offizielle Ergebnis steht ohnehin bereits fest: Eine politische Erklärung mit dem vollmundigen Titel „Gearing up for a Decade of Action and Delivery for Sustainable Development“. Darin versprechen die Regierungen ein „höheres Ambitionsniveau“ bei der weiteren Umsetzung der SDGs und betonen die „dringende Notwendigkeit beschleunigten Handelns auf allen Ebenen“. Dass es die Regierungen bei diesem Grad an Abstraktion und Vagheit belassen, war der Preis dafür, mit Trump, Bolsonaro & Co. überhaupt eine Konsenserklärung vereinbaren zu können.

Dass dies nicht ausreicht, ist offensichtlich. Der UN-Generalsekretär hat aus diesem Grund verschiedene Initiativen ergriffen, um Regierungen und Unternehmen zu zusätzlichen Selbstverpflichtungen, vor allem im Bereich Klimaschutz, zu bewegen. Diesem Zweck dient der Klimaaktionsgipfel, der am Tag vor dem SDG-Gipfel stattfindet. Am Tag nach dem SDG-Gipfel präsentiert António Guterres die „Global Investors for Sustainable Development Alliance“, mit der sich Spitzenvertreter/innen von Banken und Großkonzernen für langfristige Investitionen in Nachhaltigkeitsprojekte engagieren sollen.

Zusätzlich sind Regierungen und Unternehmen in der Gipfelwoche der UN aufgerufen, „Voluntary Accelerated SDG Actions“, „Ambitious Partnerships“, „Transformational Initiatives“ und „High impact multi-stakeholder initiatives” ins Leben zu rufen. Angesichts diplomatischer Blockaden tritt an die Stelle gemeinsamen zwischenstaatlichen Handelns ein Multilateralismus der Beliebigkeit und eine weitere Hinwendung der UN zur Privatwirtschaft. Dass die UN und das Weltwirtschaftsforum im Juni 2019 ein Strategisches Partnerschaftsabkommen unterzeichnet haben, bestätigt diesen problematischen Trend.


Gipfelmarathon der UN 2019

17.9.                Eröffnung der UN-Generalversammlung

21.9.                Jugendklimagipfel der UN

23.9.                Klimaaktionsgipfel des UN-Generalsekretärs

23.9.                Hochrangiges Treffen der UN-Generalversammlung zu allgemeiner
Gesundheitsfürsorge

24.-25.9.         SDG-Gipfel

26.9.                Hochrangiger Dialog zur Entwicklungsfinanzierung

27.9.                Hochrangige Zwischenbilanz des Samoa Pathway der kleinen
Inselstaaten (SIDS)


Globaler Ausnahmezustand
Zivilgesellschaftliche Gruppen und soziale Bewegungen haben angekündigt, dass sie sich mit dem kollektiven Politikversagen nicht abfinden wollen. In einem gemeinsamen Statement im Vorfeld des SDG-Gipfels erklären sie:

“(…) we are standing alongside many others around the world in calling out a state of emergency. Humanity cannot afford to wait, people are demanding transformative change, and we are not willing to accept the current lack of action and ambition from many governments.” (https://action4sd.org/sign-the-statement/)

In Österreich ruft die Plattform SDG Watch Austria dazu auf, am internationalen SDG-Aktionstag (25. September 2019) ein gemeinsames Zeichen gegen den Stillstand bei der Umsetzung der Agenda 2030 zu setzen. Mit einem Flashmob am Wiener Stephansplatz unter dem Motto „Keine Zeit für Stillstand! Gemeinsam für ein gutes Leben für alle“ soll auf die bisherige Untätigkeit der österreichischen Politik aufmerksam gemacht werden (https://www.facebook.com/events/352743682281482/).

Zivilgesellschaftliche Organisationen und soziale Bewegungen wie Fridays for Future haben zu einer weltweiten Aktionswoche rund um den SDG-Gipfel aufgerufen. Geplant sind unter anderem ein weltweiter Klimastreik am 20. September (https://globalclimatestrike.net/) und ein sog. Earth Strike am 27. September (www.earth-strike.com/).

Dies wird die Beschlüsse des SDG-Gipfels nicht mehr beeinflussen, aber den medialen Druck auf die Politik erhöhen und die wachsende Diskrepanz zwischen den Handlungsnotwendigkeiten angesichts der globalen Probleme und den gegenwärtigen Handlungsblockaden multilateraler Politik noch sichtbarer machen.

Den Stillstand überwinden
In Österreich hat der Rechnungshof bereits 2018 einen bemerkenswerten Bericht vorgelegt, der Defizite bei der bisherigen SDG-Umsetzung benennt und konkrete Empfehlungen an die Politik formuliert. Zu den wesentlichen Empfehlungen des Rechnungshofes zählen:

  • Die interministerielle Arbeitsgruppe sollte als nationales Lenkungsgremium zur Umsetzung der Agenda 2030 eingerichtet werden, um dadurch die Steuerung einer kohärenten gesamtösterreichischen Umsetzung zu gewährleisten.
  • Zur Umsetzung der SDGs in Österreich soll eine Nachhaltigkeitsstrategie mit einem strukturierten und kohärenten gesamtstaatlichen Mechanismus unter Einbeziehung der Länder und Gemeinden sowie der Zivilgesellschaft erstellt werden.
  • Zum ehestmöglichen Zeitpunkt und danach mindestens einmal pro Legislaturperiode soll die österreichische Bundesregierung unter Einbeziehung der Länder und der Zivilgesellschaft über die Umsetzung der SDGs an das HLPF berichten.
  • Bei einer Novelle des Bundeshaushaltsgesetzes 2013 soll darauf hingewirkt werden, dass die verpflichtende Berücksichtigung der SDGs – analog zum Gleichstellungsziel – in den Wirkungszielen des Bundes verankert wird.

Die Liste unerledigter Aufgaben bei der Umsetzung der SDGs ist lang. Nach den Wahlen am 29. September wird die neue Regierung auch daran gemessen werden, wie ernsthaft sie sich daran macht, den gegenwärtigen Stillstand zu überwinden.

Literaturhinweise

Mörwald, Hermann (2019): Die Kraft der Agenda 2030 auf den Boden bringen. APA Dossier. Wien: APA Science.
https://science.apa.at/dossier/Die_Kraft_der_Agenda_2030_auf_den_Boden_bringen/SCI_20190328_SCI82435586647639216

Rechnungshof Österreich (2018): Bericht des Rechnungshofes. Nachhaltige Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, Umsetzung der Agenda 2030 in Österreich. Wien
www.rechnungshof.gv.at/rh/home/home/Entwicklungsziele_Vereinten_Nationen_2030.pdf

Reflection Group on the 2030 Agenda for Sustainable Development (2019): Spotlight on Sustainable Development 2019. Reshaping governance for sustainability: Transforming institutions – shifting power – strengthening rights. Beirut/Bonn/Ferney-Voltaire/Montevideo/New York/Penang/Rome/Suva.
www.2030spotlight.org

SDG Watch Europe (2019): Spotlight Report on Sustainability in Europe. Who is paying the bill? (Negative) impacts of EU policies and practices in the world. Brussels.
www.sdgwatcheurope.org/who-is-paying-the-bill/

United Nations (2019): Global Sustainable Development Report 2019. New York.
https://sustainabledevelopment.un.org/globalsdreport/2019

United Nations (2019): The Sustainable Development Goals Report 2019. New York.
https://unstats.un.org/sdgs/report/2019/The-Sustainable-Development-Goals-Report-2019.pdf

United Nations General Assembly (2019): Gearing up for a Decade of Action and Delivery for Sustainable Development: Political Declaration of the SDG Summit. New York.
www.un.org/pga/73/2019/07/02/political-declaration-of-the-hlpf-silence-procedure-not-broken/

 Dieser Text erschien in ähnlicher Form zuerst in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 2. August 2019 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

Über den Autor

Dipl. Volkswirt, geb. 1962, ist seit 2014 Geschäftsführer des Global Policy Forums (New York) und zugleich seit 2004 Geschäftsführer von Global Policy Forum Europe (Bonn) (www.globalpolicy.org).
Seit 2011 fungiert er als Koordinator der globalen Civil Society Reflection Group on the 2030 Agenda for Sustainable Development (www.reflectiongroup.org).Daneben engagiert er sich bei Social Watch, einem weltweiten Netzwerk von Gruppen und NGOs, die sich mit Fragen der Armutsbekämpfung und sozialen Gerechtigkeit befassen (www.socialwatch.org). Er war von 2003 bis 2009 Mitglied des internationalen Koordinierungsausschusses von Social Watch und von 2006 bis 2009 dessen Ko-Vorsitzender.
Seit 2005 ist er Mitglied des Beirats der Stiftung Entwicklung und Frieden.
Bis September 2004 war er lange Jahre Vorstandsmitglied von Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung e.V. (weed). Zwischen 1997 und 2004 arbeitete er in verschiedenen Funktionen für weed, zuletzt als Leiter des Programmbereichs Internationale Umwelt- und Entwicklungspolitik.
Zwischen 1992 und 1997 arbeitete er als freiberuflicher Autor und Berater für verschiedene deutsche NGOs und Stiftungen, darunter das Forum Umwelt und Entwicklung, die Friedrich-Ebert-Stiftung und die Stiftung Entwicklung und Frieden. Er vertrat deutsche NGOs bei zahlreichen Tagungen und Konferenzen der Vereinten Nationen. In den Jahren 1991-1992 war er als Bibliothekar und wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Deutsche UNESCO-Kommission tätig.
Von 1984 bis 1990 studierte er Volkswirtschaftslehre und Politische Wissenschaften an der Universität Erlangen-Nürnberg (1984-1986) und der Freien Universität Berlin (1986-1990).
Jens Martens veröffentlichte mehr als 100 Artikel in Zeitschriften, Handbüchern und Sammelbänden sowie mehrere Studien und Bücher zu Fragen des Multilateralismus, der UN-Reform und der internationalen Umwelt- und Entwicklungspolitik.


In der Rubrik Kommentar der Anderen bietet die AG Globale Verantwortung Expert*innen die Möglichkeit, aktuelle und relevante entwicklungspolitische Themen zu kommentieren sowie ihre Meinung zu präsentieren. Das Ziel ist, Debatten über Entwicklungspolitik zu ermöglichen, den demokratischen Diskurs zu fördern und die Bedeutung der Umsetzung der Agenda 2030 hervorzuheben. Die inhaltliche Verantwortung für den Text liegt ausschließlich bei den Autor*innen. Die AG Globale Verantwortung teilt nicht notwendigerweise die vorgetragenen Ansichten.